Samstag, 26. März 2011

Tief im Norden

(teo) In der Nacht auf Sonntag fehlt wieder eine Stunde. Durch die Umstellung auf Sommerzeit geklaut. Weg. Futsch. Aber was passiert eigentlich in 60 Minuten? Im Rahmen der Reportage-Reihe "Eine Stunde" hat sich der Reporter in die Katakomben des Bochumer Stadions begeben und erlebte dort im Spielertunnel die letzte Stunde vor dem Anpfiff des Spiels VfL Bochum gegen Energie Cottbus. Es ging um den Aufstieg, doch für den Reporter kam zunächst der Abstieg: zehn Meter unter der Nordtribüne harrte er der Dinge, die da kommen mögen.


Harte Jungs, weicher Kern: 
Plakat des VfL Bochum für
das Spiel gegen Energie Cottbus.


 (Foto: Thomas Ottensmann)


18.15 Uhr. Früher schlossen um diese Zeit schon bald die Geschäfte. In der Bochumer Innenstadt, wo die Geschäfte schon lange bis 20 Uhr geöffnet sind, herrscht bei allerschönstem Frühlingswetter noch reges Flanieren. Die Menschen zieht es aus den Büros und Geschäftsstellen nach draußen. Zu Bundesligazeiten dominierte an Heimspieltagen zwei Stunden vor dem Anpfiff längst die Farbe Blau-Weiß. Pünktlich zum Frühlingsanfang zwar allüberall blaue Bänder, die munter durch laue Lüfte flattern, aber blau-weiße Schals und Trikots? Fehlanzeige.

Auf dem Fußweg zum ehemaligen Ruhrstadion, das längst wie ein Energiekonzern heißt, Jogger zuhauf, stromernde Hunde, Menschen auf Parkbänken, die die späte Sonne genießen. Flaggezeigende Fußballfans? Von wegen. Derweil geht die Sonne hinter den mächtigen Betonbalkonen des Stadions an der Castroper Straße unter. Es geht auf 18.45 Uhr zu, die letzten 90 Minuten vor den entscheidenden 90 Minuten im Zweitliga-Spitzenspiel des VfL Bochum gegen Energie Cottbus. Die zu Recht legendäre Bochumer Currywurst in den vielen Buden rund um das Stadion liegt noch roh auf dem Rost. Doch Weißwurst braucht hier kein Mensch.

18.48 Uhr Endlich Menschen in Trikots, ein Bastürk mit der 10 - er hat bestimmt 120 Kilo und ein Holtby mit der 18 - mit rasiertem Schädel und Vollbart - überholen mich. Aufgeregte Blagen in quietschgrünen und rosa Auswärts-Ausweichtrikots toben herum - ästhetisch zweifelhaft mit diesem blauweißem Vereinswappen - aber egal, Hauptsache gefühlsecht. Pfandsammler warten mit monströsen Tüten am Stammplatz mit ihren sauber eingeparkten Einkaufswagen darauf, dass endlich ausgetrunken wird. Dazu müsste aber erst mal angetrunken werden.

Die ersten S-Bahnen spucken jetzt langsam Waggon für Waggon die VfL-Fans aus. Am „Treffpunkt Litti“, wie die im Betoncarrée zementierte Litfaßsäule genannt wird, die so unverrückbar am Zugang zur Ostkurve, der Heimat der unentwegten VfL-Fans, steht, wird gefachsimpelt, getrunken und gefeiert. In Bochum gibt es Currywurst, sie heißt "Die Echte". Darauf sind die Menschen hier stolz, genauso wie auf ihr Bier, das seit dem 19. Jahrhundert in Bochum gebraut wird und das wohl auch nur hier so richtig gerne getrunken wird.

19 Uhr Das Treffen mit Christian Schönhals, dem Pressesprecher des VfL Bochum, steht auf dem Plan. Eingang Medienzentrum war verabredet. Doch Christian Schönhals kommt nicht. Dafür kommt Peter Neururer, der Ex-Coach des VfL, der hier immer noch so beliebt ist wie einst im Mai. Als er den Neururer-Shuffle mit den Fans tanzte und mit der grauen Maus der Bundesliga einfach mal schnell in den Uefa-Cup flitzte.

„Peter, ein Foto?“, ruft ihm ein Teenager im blau-weißen VfL-Trikot zu. Der seit geraumer Zeit beschäftigungslose Trainer unterbricht sein wichtiges Fachgespräch - ging wohl um die Nachteile der flachen Raute (4-1-4-1) und die Umstellung auf den Tannenbaum (4-3-2-1) - sagt „Ja sicha!“ geht hin und lässt sich mit dem Handy anblitzen. Sein Lächeln wirft ein Echo.

19.07 Uhr Peter Neururers Frisur sitzt. Christian Schönhals kommt nicht. Anruf auf der Pressestelle, „mir läuft hier die Zeit weg“.

19.15 Uhr Der Countdown läuft, die letzten 60 Minuten vor dem Anpfiff des Spiels beginnen für mich vor den geschlossenen Toren des Medienzentrums Morizz. Oben wird Fiege getrunken, das ist das Bier, das es (so gut wie) nur in Bochum gibt. Dann, pünktlich wie ein Maurer, ist Christian Schönhals plötzlich doch da. Hat sich aus dem Dunstkreis des Fan-Gewusels zwischen Polizeistation, Fan-Shop und VfL-Kneipe irgendwie neben mir materialisiert, ohne dass ich es bemerkt hätte. „Hallo. Westfälische Nachrichten?“. Ich antworte „Ja.“ Obwohl ich seinerzeit auf einen anderen Namen getauft wurde.

Dann mal los. Treppe runter, Treppe runter, einmal scharf rechts und wir stehen in einem weiß getünchten Gang. Hier liegen die Leitungen über Putz, wie in jedem handelsüblichen Keller. Mit dem Unterschied, dass ein handelsüblicher Unterbau in einem Einfamilienhaus in der Regel nicht über eine Mixed Zone verfügt, in der Journalisten von Print und Hörfunk nach dem Spiel ihre Interviews mit Trainern und Spielern führen können. Fensterlos, tief im Norden des Stadions, zehn Meter unter der Pressetribüne.
In fensterlosen Räumen die Luke zur Welt:
Fernseher in der sogenannten Mixed Zone.

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Ich höre die Fans in der Ostkurve, höre die 
Gesänge („Unten auf dem Rasen“) und Sprechchöre („VfL, mein Herz schlägt nur für dich“) und sehe: Nichts. Zumindest nicht mit eigenen Augen. Aber in dieser mit blauem Band abgetrennten Zone auf 3 x 4 Metern steht ein alter Röhren-Fernseher auf einem kleinen Regal. Der Empfang ist schlecht. Flimmern und Rauschen. Auf dem Bildschirm sehe ich das, was im Stadion auf die Leinwände übertragen wird, was aber jeder Fan im Rund ohnehin mit eigenen Augen sieht. Wie sich das Stadion nach und nach füllt, wie das Betonkästchen mit Grünfläche langsam zum Leben erwacht. Diese Stunde wird einsam.

Was nur bedingt stimmt. Julia Schurna und Christian Zwingmann leisten mir Gesellschaft, aber sie sind nicht zum Spaß hier, sondern auf Schicht: Die beiden Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma stehen Spalier für die Spieler, die hier durch müssen. Zum Aufwärmen und später zum Spiel.

19.40 Uhr Ich höre Stollenschuhe auf dem Betonboden. Zuerst die rotweißen Gäste aus Cottbus, dann die Lokalmatadoren aus Bochum. Sehen größer aus, als von der Tribüne. Einige nicken freundlich, sagen „Hallo“, wundern sich über den einsamsten Reporter der Welt, der eine eigene Medien-Zone ganz für sich allein hat. Einer ruft: „Mach die Kamera aus!“. Was gibt es denn vor dem Spiel zu berichten? Eine Menge.

Zum Beispiel, dass der Energie-Trainer „Pele“ Wollitz , in Brakel geboren und später auf Schalke zu Ruhm gekommen, der Freundlichste ist, der sichtlich Spaß an der ungewohnten Szenerie hat. Er kommt um die Ecke - und grinst. Und ich kann plötzlich sehen, was er denkt: Was macht der kleine Reporter denn da - außer mit der blonden Sicherheitsdame zu flirten?

Pele Wollitz, der Freundlichste? Wer den Trainer im Spiel an der Außenlinie sieht und vor allem hört, kann sich das vielleicht nicht vorstellen. War aber so. 90 Minuten Ausnahmezustand, regelrechtes Seitenlinien-Tourette , aber davor und danach: ein netter, ausgeglichener, höflicher und - zugegeben - recht emotionaler Mensch. Vergleiche auch Jürgen Klopp. Sonst noch?
20.01 Uhr: Bochums Keeper Andreas Luthe hat angeschwitzt. Der Reporter auch. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Andreas Luthe, der Bochumer Keeper, grüßt freundlich und Slawo Freier, der durch eine Grippe außer Gefecht gesetzte Ex-Nationalspieler und deshalb in Zivil bei der Mannschaft in der Kabine, lässt sich sogar auf einen kleinen Plausch über die gemeinsame Heimat, das Sauerland, ein. Der Slawo, der früher mal Paul hieß, wünscht mir hernach alles Gute. Die Mannschaft hat derweil angeschwitzt. Ich auch.

20.02 Uhr Hinter verschlossenen Türen die Mannschaftsansprache. Friedhelm Funkel, in den Katakomben wie erwartet introvertiert, besonnen und nachdenklich, findet mal wieder die richtigen Worte. Wie wir im Nachhinein wissen.

20.10 Uhr Ein Pfiff wie eine gestopfte Trompete. Was Wunder: Er kommt aus der Schiedsrichterkabine, hinter verschlossenen Türen. Das Zeichen zum Aufbruch. Plötzlich Getümmel in blau und weiß, ohrenbetäubender Lärm. Was ist denn da los? Ach ja, die Ballkinder kommen. 25 Kinder in geschlossenen Räumen - ein beachtlicher Pegel!

20.11 Uhr Und dann, endlich: Stollenschuhe auf Beton, die zweite. Der Einmarsch der Gladiatoren. Das Stadion kocht, die Tribüne wummert. Im Bauch des Wals ist noch Leben. Die Spieler jetzt hochkonzentriert, ordnen noch mal ihre Trikots, zupfen versonnen an den Stutzen. Alle in gespannter Erwartung. Wie das Spiel wohl laufen wird? Es geht um den Aufstieg. Dritter gegen Sechster, vier Punkte voneinander getrennt. Ein Big Point, das wissen hier alle.

20.12 Uhr Der Keller ist leer, über den Bildschirm flimmert die Gedenkminute für Japan, zweiundzwanzig Spieler senken den Kopf, das Stadion ist still, ganz still - zum ersten Mal an diesem Abend. Danach kommt der Stadionsprecher, der die Aufstelllungen ins Mikro schreit. Die Fans brüllen jeden Namen zurück, dann singt der Herbert: „Tief im Westen...“ - und aus tausenden Kehlen dann im Chor: "...wo die Sonne verstaubt".

20.15 Uhr Anpfiff. Eine Stunde ist vorbei. Viel passiert, aber das Wichtigste kommt erst noch. Raus ins Leben, raus an die Luft, die hier nach Currywurst und Bier riecht. Tief im Norden, unter der Tribüne, macht in der Mixed Zone einer das Licht aus.



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